Wenn Daniel Jung Parabeln, Polynomdivision und Integralrechnung erklärt, sehen das Millionen. Manche spulen auch noch mal zurück. Denn die wenige Minuten langen Clips sind auf der Videoplattform Youtube jederzeit verfügbar. «Ich kann es nach meinem Tempo so oft gucken, wie ich will», sagt Jung.
Abgeschaut hat er sich das vor mehr als zehn Jahren bei den großen US-Universitäten, die schon damals Mitschnitte ganzer Vorlesungen online stellten. Heute helfen seine Videos Schülerinnen, Schülern und Mathe-Studierenden. Eine Lösung für die Misere, die zwar nicht neu ist – aber die die jüngste Pisa-Studie wieder verdeutlicht hat?
Im oft unbeliebten Fach Mathematik schneidet Deutschland da – nun ja – bescheiden ab. Wie auch beim Lesen und den Naturwissenschaften vermeldete die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden. In Mathematik verschlechterten sich die Leistungen der leistungsstarken und der leistungsschwachen Schüler und Schülerinnen demzufolge dabei gleichermaßen.
Weg vom Vortragen von Formeln
Für Daniel Jung «ein Zeichen, dass es Zwölf geschlagen hat». Der Unterricht müsse dringend weg vom rezeptartigen Vortragen von Formeln, ohne dass die Jugendlichen wissen, wofür sie die brauchen.
So sieht es auch der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Florian Fabricius: «Wir haben eine Welt, die fächerübergreifend funktioniert.» Da werde im Unterricht zu streng getrennt. So sollten beispielsweise Kurvendiskussionen anhand konkreter wirtschaftlicher Entwicklungen erklärt werden. «Und nicht an Problemen aus dem Schulbuch mit Äpfeln und Birnen.» Wenn man merkt, dass alles zusammenhängt und sich ein Gesamtbild ergibt, mache Lernen Spaß.
45 Minuten Frontalunterricht seien veraltet. Gerade bei Mathematik komme es darauf an, die Materie zu verstehen. Das gelingt nach Fabricius‘ Überzeugung eher, wenn Schülerinnen und Schüler sich selbst engagieren und projektbezogen mathematische Probleme lösen. Er verweist in dem Zusammenhang auf die Internetseite matheforscher.de.
Neue Unterrichtsmethoden im Test
Deutschlands oberster Schülersprecher fordert von Politik und Schulen mehr Mut zu Innovationen und Ausprobieren. An Modellschulen könnten neue Unterrichtsmethoden getestet werden, schlägt er vor.
Ansätze dafür gibt es, wie der Vorsitzende der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Prof. Reinhard Oldenburg, sagt. Wichtig sei, sich von abstrakten, weltfremden Fragen zu entfernen und Aufgaben am realen Leben zu orientieren. So gehe es bei der Autokorrektur für Texte um bedingte Wahrscheinlichkeit. Therme mit x und y könne man anhand von Bildverarbeitungsprogrammen erläutern. «Photoshop ist eigentlich ein großes Matheprogramm», so Oldenburg. «Es gibt zu viele nicht-authentische Aufgaben und zu wenig Empfinden von Relevanz.»
Oft erschwere Bürokratie, dass neue Ansätze ausprobiert werden, sagt der Professor. «Die meisten Lehrkräfte fühlen sich durch Lehrpläne eingeengt.» Eine zusätzliche Hürde sei, dass vielerorts Kinder mit unterschiedlichen Leistungsniveaus gemeinsam unterrichtet werden. Da allen kognitiv herausfordernde Aufgaben zu stellen, sei sehr schwer.
Dass auch Themen gelehrt werden, die auf den ersten Blick nicht viel mit dem Alltag zu tun haben, hält Oldenburg für richtig. In der Mathematik werde alles begründet, man müsse nicht wie in anderen Fächern einem Lehrer qua seiner Autorität Glauben schenken.
KI und ChatGPT
Das sei wichtig für logische Argumentation, um Sachverhalte interpretieren zu können und letztlich für die Demokratieschulung – etwa um beurteilen zu können, ob eine Aussage richtig ist. Solche Fähigkeiten würden zum Beispiel mit Blick auf Künstliche Intelligenz und den Chatbot ChatGPT immer wichtiger, erläutert der Fachmann. Bei Stochastik gehe es darum, Daten zu interpretieren. Binomische Formeln könnten beim Kopfrechnen helfen – und letzten Endes dabei, Fake News zu erkennen, wenn diese einen mathematischen Bezug haben.
Wo man im Alltag überall mit Zahlen konfrontiert wird, bekommen vor allem Menschen mit einer Rechenstörung (Dyskalkulie) zu spüren. Das gehe los bei der Uhr, bei der Einschätzung von Entfernungen und Gewichten in Rezepten, erklärt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie. Handwerksbetriebe hätten früher Vorbehalte gehabt, Betroffene einzustellen – weil auf dem Bau gemessen werden, beim Malerbetrieb das Mischverhältnis für einen bestimmten Farbton stimmen muss. Inzwischen gebe es viele digitale Hilfen, sagt Höinghaus. Daher sei das Problem nicht mehr so groß.
Der Vorteil von Erklärvideos
Als Unterstützung sieht Schüler Fabricius auch Erklärvideos wie die von Daniel Jung. Die Vorteile: Sie seien immer abrufbar – einen Lehrer könne man nicht noch schnell am Abend vor der Klausur anrufen. Und jeder könne sie sich nach seinen individuellen Bedürfnissen anschauen. Die Nachteile seien, dass solche Clips weniger persönlich sind und man nicht direkt Nachfragen stellen könne. Auch Didaktiker Oldenburg sieht sie skeptisch: Oft würden nur Rezepte vermittelt.
Fabricius fände es gut, wenn Lehrkräfte solche Videos und den Umgang damit erläutern. «Das ist, was das abstrakte Wort Medienbildung bedeutet.» Oft würden die Clips aber nur in WhatsApp-Gruppen rumgeschickt und der Lehrer tue so, als gäbe es sie gar nicht.
Jung sagt: «Wir brauchen Menschen, die Mathematik hochleben lassen.» Die Inhalte seien wichtig, um Muster und Strukturen zu verstehen. Nichts sei in einer Welt von Digitalisierung und Daten wichtiger.
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