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Industrie: Bei Digitalisierung einiges verschlafen

Industrie: Bei Digitalisierung einiges verschlafen
Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). (Urheber/Quelle/Verbreiter: Kay Nietfeld/dpa)
Die Amtszeit von Dieter Kempf als BDI-Präsident endet mit dem Jahreswechsel. Ein Thema, das ihn umtreibt, ist vor allem der digitale Wandel - er sieht viel Nachholbedarf.
«Dornröschenschlaf»:

Industriepräsident Dieter Kempf hat die Politik zu mehr Tempo bei der Digitalisierung in der Bildung und der öffentlichen Verwaltung aufgefordert.

«Hier befindet sich Deutschland immer noch im Dornröschenschlaf», sagte Kempf der Deutschen Presse-Agentur. «Dass Gesundheitsämter im 21. Jahrhundert Corona-Daten per Fax weitergeben, ist mir unerklärlich. Die Datenlage könnte und sollte viel besser sein, gerade im Angesicht einer Pandemie. Auch beim Bauen passiert noch zu vieles per Papier. Das erschwert es zu investieren, das schwächt uns massiv.»

Bei den öffentlichen Aufträgen stehe Deutschland wegen der Corona-Pandemie in einem Investitionsstau. «Es fehlt der Mut, föderale Strukturen in der Verwaltung aufzubrechen und das Gesamtsystem neu zu denken. Es darf doch nicht wahr sein, dass wir darüber überhaupt noch lange diskutieren. Da ist einiges verschlafen worden.»

Kempf sprach sich außerdem für einen verstärkten Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) aus, etwa im Kampf gegen den Klimawandel. Ein Beispiel sei die effiziente Nutzung einer Ladeinfrastruktur. «Wenn wir unser Energienetz digitalisieren wollen, brauchen wir eine neue Infrastruktur und eine KI, die alles lenkt und steuert. Ich finde es schade, dass mehr darüber diskutiert wird, KI zu regulieren, statt sie zu implementieren. Mangelnde Koordinierung und Kompetenzgerangel in der Bundesregierung sind ein Grund dafür, dass sich wichtige Projekte verzögern.»

Für mehr KI sollten die Kräfte in Europa gebündelt werden. «Wir haben sechs ausgezeichnete KI-Kompetenzzentren in Deutschland, außerdem Exzellenz-Cluster in Frankreich und den Niederlanden. Wenn die mehr zusammenarbeiten, macht uns das alle attraktiver.» Das hätte eine große Ausstrahlung. «Dann könnten wir Europäer auch Wissenschaftler aus den USA zurückholen. In Deutschland sind wir beispielsweise sehr gut in der industriellen Robotik und der Mustererkennung in der Medizintechnik aufgestellt.»

Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) sprach sich außerdem für eine andere Einstellung zum Datenschutz aus. «Der europäische Ansatz mit der Grundidee von Datenvermeidung und Datensparsamkeit führt uns in eine Sackgasse. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Zu viele Daten lassen sich heute gar nicht verwenden. Wir müssen hin zur Idee der Datensouveränität. Wir brauchen eine Datenpolitik in Deutschland und Europa, die Unternehmen Geschäftsmodelle aus anonymisierten und personenbezogenen Daten ermöglicht.»

Nötig sei eine «Nomenklatur», mit der jeder, der eine Datenplattform betreiben wolle, auf «Big Data» zurückgreifen könne, so Kempf: «Nicht falsch verstehen: Ich bin ein großer Verfechter von Datenschutz. Aber ich wünsche mir zum Beispiel im Gesundheitswesen weitaus mehr Möglichkeiten, um Kranken besser zu helfen. So ist die Corona-Warn-App in Deutschland kein Instrument zur Nachverfolgung des Infektionsgeschehens, sondern ein reines Warnsystem. Es muss bessere Lösungen geben, die wir auch in Europa realisieren wollen – nicht nur in den USA oder China.»

Kempf tritt Ende des Jahres als BDI-Präsident ab. Sein Nachfolger wird der langjährige Siemens-Manager Siegfried Russwurm, der Aufsichtsratsvorsitzender der Industriekonzerne Thyssenkrupp und Voith ist.

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