Phänomen WWW selbst am WC: Das stille Örtchen ist ein Tor zur Welt geworden. Früher war der Toilettengang eine Art Auszeit, Papa blätterte dort höchstens mal in der Zeitung, einige Menschen auch in einem Magazin oder Buch. Heute dagegen haben Millionen Menschen weltweit ihr Smartphone auch auf dem Klo bei sich und sind mobil online. Der Trend geht zum smarten Stuhlgang.
Eine Umfrage des Cybersicherheitsunternehmens NordVPN ergab kürzlich, dass inzwischen 55 Prozent der Erwachsenen in Deutschland ihr Handy mit auf die Toilette nehmen. Vor sieben Jahren sollen es erst 42 Prozent der Bundesbürger gewesen sein.
Bei einer Befragung des Verbraucherportals «Handytarife.de» im Jahr 2015 antworteten gut 8 Prozent, dass sie «Ja, des Öfteren» ihr mobiles Endgerät mit aufs Klo nehmen. 13 Prozent sagten «Ja, ab und zu» und etwa 21 Prozent «Ja, aber nur selten» (zusammen 42 Prozent). Mit 55,5 Prozent sagte damals jedoch noch mehr als die Hälfte in der repräsentativen Umfrage: «Nein, nie». Nach der aktuellen Umfrage von 2022 kommt das strikte «Nein» heute nur noch auf 37 Prozent.
Spanier am häufigsten online beim Toilettengang
Der Erhebung aus dem laufenden Jahr zufolge nutzen von allen befragten Ländern die Erwachsenen in Spanien ihr Smartphone am meisten auf der Toilette. Fast 80 Prozent der Befragten gaben dort an, sich auf diese Weise auf dem Lokus die Langeweile zu vertreiben.
Es folgen Polen (etwa 73 Prozent), die USA (etwa 71 Prozent), Kanada (etwa 66 Prozent), die Niederlande und Frankreich (jeweils etwa 64 Prozent) sowie Australien (62) und Großbritannien (59).
Deutschland ist in dieser Liste das Schlusslicht. Man könnte auch sagen: Auf dem Klo ist man hierzulande konservativ.
Deutsche checken gerne die Nachrichtenlage
Fast überall die beliebteste Aktivität der Abort-Handynutzer ist das Scrollen durch Social-Media-Kanäle. Für Deutsche ist es auf der Toilette aber auch wichtig, sich über Nachrichten zu informieren (49 Prozent). Lokus-Logik: der richtige Ort für die Scheißweltlage.
Darüber hinaus werden Sachen für die Arbeit gecheckt (33 Prozent), Online-Spiele gezockt (32 Prozent), Videos, Filme oder TV-Sendungen geschaut (24 Prozent), Freunde angerufen oder angeschrieben (23 Prozent) oder der Tag geplant (etwa 15 Prozent).
«Menschen haben auch schon vor dem Smartphone Medien auf der Toilette konsumiert», betont der aus Österreich stammende und in St. Gallen (Schweiz) lehrende Verhaltensforscher Clemens Stachl. Der Professor für Behavioral Science sieht jedoch eine neue Dimension. «Ich spreche in diesem Zusammenhang oft von der Linsenfunktion des Smartphones», sagt Stachl. «Es konzentriert und bündelt auf einem einzigen Gerät viele Aktivitäten, die früher an bestimmten Orten oder in anderen Kontexten ausgeführt wurden: Dating, Bankgeschäfte, Einkaufen, Spielen, Navigieren, Reisen planen, Sprachen lernen und so weiter.»
Auch der Psychologe und Internetsuchtforscher Hans-Jürgen Rumpf sieht eine gewisse Tradition im heutigen Verhalten. «Schon früher haben Menschen auf der Toilette gelesen. So gibt es eine Studie von vor 20 Jahren, nach der damals immerhin ein Viertel der Bevölkerung auf dem Klo gelesen hat, etwa Bücher oder Comics. Stärker ausgeprägt war – und ist – dieses Verhalten bei Männern.»
Da das Smartphone aber sehr viel mehr Möglichkeiten biete, sei das Scrollen auf der Toilette im Jahr 2022 deutlich weiter verbreitet als das reine Lesen noch 2002. «Das Handy bietet auf Abruf einfach mehr Möglichkeiten als ein Buch, ermöglicht auch den Austausch mit anderen während der kleinen Auszeit», sagt Rumpf, der der wissenschaftliche Leiter der Scavis-Studie ist, einem bundesweiten Projekt mit einer App zur Untersuchung problematischer Smartphone-Nutzung.
Von der Angst, etwas zu verpassen
Grundsätzlich sieht der Fachmann von der Uni Lübeck im Handy auf der Toilette kein schädliches Verhalten. «Die Sichtweise, nicht einmal dort hielten es Menschen noch aus, mit sich allein zu sein, greift zu kurz.» Der Zeitvertreib mit den kleinen Computern sei nun mal viel ansprechender und vielfältiger als mit anderen Medien. In den letzten 15 Jahren habe sich eine Kultur ständiger Erreichbarkeit entwickelt, die bis in die früher «stillen Minuten» reiche.
Allerdings, so betont Rumpf, breite sich das Phänomen «FoMO» aus – also die Angst, etwas zu verpassen (FoMO steht für «Fear of missing out»). «Diese zwanghafte Sorge und innere Unruhe kann zur intensiven Smartphone-Nutzung führen und der Vorläufer einer problematischen und am Ende süchtigen Nutzung sein.» Die Rate der Gefährdeten für diese Entwicklung und Abhängigkeit dürfte bei den Klo-Scrollern höher sein als bei denjenigen, die das Handy nicht mit auf die Toilette nehmen, sagt Rumpf. Alles in allem rate er dazu, mit dem Handy bewusst umzugehen und es öfter wegzulegen, vor allem beim gemeinsamen Essen, vor dem Schlafengehen und eben vielleicht auch beim Toilettengang.
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